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Katharina Gollor

21 Jahre CUR Executive MBA - Ein Blick zurück mit Professor Jörg Baetge

 

Im Sommer 2022 hat Herr Prof. Dr. Jörg Baetge nach mehr als 20 Jahren seine Lehrtätigkeit in unseren Studiengängen beendet. Wir haben den Anlass genutzt, gemeinsam mit ihm auf die zurückliegende Zeit zu schauen und den Blick auch in die Zukunft schweifen zu lassen.

 

 

 

Herr Prof. Dr. Jörg Baetge, Sie haben mehr als gut zwei Jahrzehnte im CUR Executive MBA Program gelehrt. Welche besonderen Erinnerungen nehmen Sie aus dieser Zeit mit?

Für den ersten CUR-Jahrgang im Jahr 2001 gab es nur drei Anmeldungen, am Ende waren es dann 5 Teilnehmer. Diese ersten Studenten sind uns aber bis heute treu und haben seitdem regelmäßig an den jährlichen Abschlussfeiern teilgenommen. Als erster Tagungsraum diente damals ein ausgeräumtes Hotelzimmer im Hotel Kaiserhof. Anschließend fand ein häufiger Wechsel der Tagungsräume statt, bevor wir später unsere Seminare in den wunderbaren und sehr gestaltbaren Räumen der LBS veranstalten durften, bis dies aufgrund der Pandemie leider nicht mehr möglich war. Im Zeitverlauf stieg die Teilnehmerzahl stark an und die Bildung einer zweiten Gruppe für jedes Modul wurde erforderlich, sodass maximal 25 Personen in einer Gruppe waren. Dieser Punkt macht das CUR-Programm auch so besonders für mich: die relativ kleine Gruppengröße sowie die unterschiedlichen Studien- und Unternehmenshintergründe der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereichern die CUR-Veranstaltungen durch hochinteressante und engagierte Diskussionen. Zudem sind die CUR-Masterarbeiten aufgrund ihres Praxisbezugs besonders attraktiv, auch für die Themensteller.

Ein besonderer Moment, an den ich mich noch genau erinnere, war das Gespräch mit einem über 60-jährigen Teilnehmer. Der Teilnehmer war gelernter Diplom-Kaufmann und Wirtschaftsprüfer, weshalb ich ihn fragte, was der Grund für seine Teilnahme sei. Er entgegnete, dass er bei mir sein Studium absolvierte habe und er nun gerne sein Wissen auffrischen wolle.

 

Wenn Sie Ihr Studium mit dem heutigen Studium im CUR Executive MBA vergleichen, welche Unterschiede gibt es da?

In meinem Studium gab es keine studienbegleitenden Klausuren bzw. Prüfungen, sondern Klausuren nur am Ende von Seminaren. Am Ende des Studiums fanden dann fünf fünfstündige Klausuren in zwei Pflichtfächern (BWL & VWL) sowie je eine in den drei Wahlfächern statt. Alle fünf Examens-Klausuren waren innerhalb einer Woche zu schreiben (Ausnahme ärztliches Attest). Zwei Wochen später fanden dann die mündlichen Prüfungen statt. Durch diesen konzentrierten Prüfungszeitraum gab es einen Zwang zu sehr intensiver Vorbereitung auf die Prüfungen. Man erarbeitete sich zwangsläufig ein sehr breites und fächerübergreifendes Wissen auf einen engen Prüfungstermin hin, was uns Studierende die vielen Interdependenzen zwischen den Fächern, z. B. zwischen „Steuern“ und Finanzwissenschaft, erkennen ließ. Die Dauer des BWL-Regelstudiums betrug acht Semester. Unsere Diplomarbeiten damals entsprachen der heutigen Masterarbeit bei CUR – allerdings war kein Praxisbezug möglich. Insgesamt unterschieden sich die Studienbedingungen damals und heute bei CUR schon sehr.

 

Im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung haben sich die Anforderungen an das Rechnungswesen stark verändert. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen aktuell und in der Zukunft?

Im Laufe der Zeit wurden regelmäßig Rechtsänderungen im HGB und des IFRS-Regelwerks vorgenommen, eine Zeit lang galten auch sogar noch die US-GAAP. Es gab eine hohe Änderungsgeschwindigkeit der HGB-Vorschriften für Buchführung und Jahresabschluss. Dies galt und gilt auch heute noch bezüglich der IFRS, wie man an den ständig erforderlichen Ergänzungs-Lieferungen des von Prof. Kirsch, von Kollegen aus der Prüfungspraxis und von mir herausgegebenen IFRS-Kommentars erkennen kann. Darüber hinaus wurde die Überwachung des Rechnungswesens wegen der ständigen Änderungen des HGB und der IFRS sowie wegen der Digitalisierung, der Globalisierung und der Komplexität immer schwieriger. Diese Komplexität ermöglichte Bilanzfälschern das „Creative Accounting“. Das führte zu vielen sehr großen, erst zu spät aufgedeckten Fällen von Unterschleif, wie sich in den letzten Jahren an den Beispielen von ENRON und WIRECARD zeigte. Diese Fälle hatten sowohl für deren Mitarbeiter als auch für deren Aktionäre böse Folgen.

Weiterhin sind die Anforderungen an alle Beteiligten durch die immer stärker fortschreitende IT in den Unternehmen gestiegen. Weder die Abschlussprüfer noch die Finanzaufsicht, aber auch nicht die Bilanzpolizei haben Bilanzfälschungen rechtzeitig aufgedeckt. Wir haben versucht, diese neu entstandenen Probleme durch empirische Forschung zu lösen. Diese umfasste die Rating-Forschung des IRW und des Forschungsteams Baetge ab Anfang der 90er-Jahre und der Umsetzung der Forschungs-Ergebnisse in die Praxis. Auch in der Lehre des CUR-Programms wurden die diesbezüglichen  Forschungs-Ergebnisse berücksichtigt. Als Basis für unsere Forschung diente „Big Data“ in Form tausender Jahresabschlüsse gesunder und einer ausreichend großen Zahl von später insolvent gewordenen Unternehmen. Unser Forschungsansatz war, mit Hilfe von KI Kennzahlen-Muster herauszufinden, die die Jahresabschlüsse von in die Insolvenz gegangenen Unternehmen in den letzten drei Jahren vor deren Insolvenz aufwiesen im Unterschied zu den Kennzahlen-Mustern gesund gebliebener Unternehmen. Wir haben eben diese Unterschiede identifiziert und statistisch ausgewertet. Mit diesen Ergebnissen haben wir Sterbe- und Überlebenswahrscheinlichkeiten für jedes Unternehmen anhand seiner Jahresabschlüsse mit dem sogenannten BAETGE Bilanzrating (BBR) ermitteln können. Letztlich erwarb Moody’s die Lizenz für das BBR und wir entwickelten gemeinsam aus diesem Know How das heute weltweit eingesetzte „Moody’s RISK CALC“.

 

Gibt es weitere Themen im Rechnungswesen oder allgemeiner in der BWL, die Sie derzeit bewegen?

Zum einen bewegen mich die vielen Fälle des „Creative Accounting“ und auch der Fälschung von Jahresabschluss-Daten und die Konsequenzen, die sich daraus für die Mitarbeiter dieser Unternehmen sowie für die Investoren in die betreffenden Unternehmen ergaben und ergeben. Dass es dazu kommen konnte, ist letzten Endes auf das Versagen von Bilanzpolizei, Abschlussprüfern und Finanzaufsicht zurückzuführen. Die Aufarbeitung dieser Fälle muss zu faktischen Verbesserungen der internen und externen Überwachung führen. Leider ist dieser Prozess längst noch nicht abgeschlossen.

Zum anderen bewegt mich, dass sich die wirtschaftswissenschaftliche Forschung -  in die falsche Richtung entwickelt: Offenbar analog zur Forschung an der in einem Märchen im „Märchenbuch für Manager“ (Coppenrath-Verlag) beschriebenen neu gegründeten Tauch-Akademie in Polynesien.  Das Märchen erzählt, dass die Perlentaucher Polynesiens bei internationalen Wettbewerben immer weiter abgeschlagen wurden. Das Wissenschafts-Ministerium Polynesiens wurde daher beauftragt, eine Tauchakademie zu gründen, in der die Perlentaucher besser ausgebildet werden sollten, so dass sie wieder Spitzenleistungen erbringen könnten. Der zuerst berufene Professor war der Weltmeister im freien Langzeit-Tauchen. (Gut so!) Der Nächst-Berufene war aber schon ein Professor, der sich auf die Tauchleistung im Wasser unterschiedlicher Temperaturen spezialisiert hatte. Der nach ihm Berufene war ein Spezialist, der die Tauchleistung abhängig vom Salzgehalt des Wassers erforschte. Die Berufungspolitik wurde zunehmend in Richtung Hochspezialisierung weitergetrieben – bis zuletzt ein Forscher berufen wurde, der nicht einmal mehr schwimmen konnte. Man kann beobachten, dass sich auch in den Wirtschaftswissenschaften eine Tendenz entwickelt, dass bei Berufungen nicht mehr darauf geachtet wird, ob ein(e) zu Berufende(r) auch ein Unternehmen leiten bzw. Unternehmens-Probleme konkret  lösen könnte, sondern nur, dass er oder sie eine entsprechende Anzahl von Beiträgen in A-Journals veröffentlicht hat, die lediglich die Lösung von Mini-Problemen mathematisch statistisch erforschen.

 

Was überwiegt: Freude oder Wehmut über den bevorstehenden Ruhestand?

Tatsächlich beginnt nicht erst jetzt der formelle Ruhestand. Ich wurde ja bereits 2002 emeritiert. Von da an musste ich keine Pflichtvorlesungen mehr halten, aber ich hatte dadurch die Möglichkeit, im von mir neu gegründeten Forschungsteam Baetgemit bis zu 14 wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ich durch Drittmittel finanzieren konnte, von der Praxis gestellte hoch interessante Fragestellungen zu untersuchen und zu bearbeiten. Das war eine wissenschaftlich sehr ertragreiche Zeit! Seit 2015 flossen allerdings immer weniger Drittmittel, was für mich zu einer deutlichen Reduzierung der Forschungsprojekte führte.

Mit der Beendigung der CUR-Lehrtätigkeit wurde mir aber ermöglicht, mich mehr um mein soziales Projekt, das „Massai-Internat“ in Kenia, zu kümmern. Dieses Projekt habe ich 2011 während einer Gastprofessur an der Kenyatta University in Nairobi / Kenia identifiziert: Bei einer Wochenend-Safari in die Massai Mara erfuhr ich nämlich von unserem Massai-Guide, dass Massai-Kinder nicht ganzjährig zur Schule gehen könnten, weil die Eltern als Halbnomaden jeweils zu Beginn der zweimal jährlich auftretenden Trockenzeit mit ihren Herden auf Futtersuche gehen und ihre Kinder mitnehmen müssten und der Schulbesuch der Kinder dadurch unmöglich werde. Die Elternschaft des betreffenden Massai-Stammes bat mich, ein Internat zu bauen, damit die Kinder dort ganzjährig beschult werden könnten. Seit dieser Zeit habe ich dieses Massai-Internat als Projekt verfolgt. 2021 wurde der erste Bauabschnitt ( für je 115 Massai-Mädchen und -Jungen) fertig gestellt. Selbst in der CORONA-Zeit wurde das Projekt immer weiterentwickelt. 2021 habe ich dann mit Gleichgesinnten die „JörgBaetgeStiftung.Home4Education (H4E)“ gegründet, um die ehrenamtliche Arbeit für dieses große Projekt auf Schultern von mehr als 10 Personen zu verteilen. Die Tätigkeit der H4E-Stiftung wird auf der Website Baetge-Foundation.orgerläutert. Schauen Sie sich diese Website bitte einmal an.

Aufgrund der durch die Beendigung meiner Lehrtätigkeit bei CUR gewonnenen zusätzlichen Freizeit sind nun auch jährlich mehrere kleine Urlaubsreisen möglich, zuletzt zu den „3 Zinnen“ in Italien. Hinsichtlich der von Ihnen vermuteten Wehmut kann ich sagen, dass diese bei mir nicht eingetreten ist, auch wenn  meine persönliche Leistungsfähigkeit mit höherem Alter natürlich abnimmt. Der Westfale bzw. Münsteraner sagt „Et let all noach“! Das muss man akzeptieren! Alles in allem sind meine Frau und ich sehr dankbar für jeden neuen Tag, den wir erleben dürfen. Wir freuen uns über jeden zusätzlichen Tag und handeln nach dem Motto „Carpe diem!“

 

Gibt es Themen, denen Sie sich in Ihrem Ruhestand besonders widmen möchten?

Sehr gerne möchte ich weiterhin viel Zeit in das Internat für Massai-Kinder in Kenia und in die Stiftung „Home4Education“ investieren. Im Rahmen dieses Projektes gibt es fortlaufend viele Aktionen vor Ort in Kenia, aber auch hier in Münster, denen ich mich widmen möchte. Zum Beispiel besteht eine Kooperation mit dem Zentrum für Lehrerbildung der WWU in Münster, die es Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern ermöglicht, ihr Auslandspraktikum am Massai-Internat zu absolvieren. Es ist beeindruckend zu sehen, dass innerhalb dieser kurzen Zeit stets besondere Verbindungen zwischen den Massai-Schülerinnen und -Schülern und den Praktikantinnen und Praktikanten entstehen. Wir lernen von den Voluntären und Voluntärinnen sehr viel über die von uns geförderten Massai-Kinder und das Internat! Erzählen möchte ich noch, daß vor einigen Jahren ein Pausengespräch im CUR-Programm über mein Sozial-Projekt „Massai-Internat“ eine CUR-Teilnehmer-Gruppe veranlasste, ein Stipendium für ein armes Massai-Mädchen zu spenden. Das Mädchen erlangte mit der Unterstützung der CUR-Teilnehmer schlussendlich einen erfolgreichen Schulabschluss, was uns alle riesig gefreut hat.

Abschließend möchte ich meine persönliche Auffassung bezeugen, dass – wenn es das Schicksal oder der liebe Gott gut mit uns gemeint hat – wir uns verpflichtet fühlen sollten, Hilfsbedürftigen aus der Not zu helfen, soweit wir können.

 

Wir bedanken uns für das Interview.